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Titel
Das Volontariat. Eine Geschichte des Journalismus als Auseinandersetzung um seine Ausbildung, 1870 bis 1990


Autor(en)
Venema, Niklas
Reihe
Öffentlichkeit und Geschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
505 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Wilke, Institut für Publizistik, Johannes Gutenberg Universität Mainz

Es gibt Bücher, bei deren Lektüre man sich fragt, warum sie nicht schon längst geschrieben worden sind. Zu diesen gehört der hier anzuzeigende Titel. Dass es bisher keine zusammenhängende Untersuchung über das Volontariat, den seit anderthalb Jahrhunderten üblichen Hauptzugang zum Journalistenberuf in Deutschland gibt, ist schwer begreiflich. Akademisch könnte man von einem „Desiderat“ sprechen. Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft hätte sich schon längst darum kümmern müssen. Ihr bisheriger Verzicht darauf mag mehrere Gründe haben: Der Gegenstand selbst ist wenig formalisiert (oder war es zumindest lange Zeit), die Quellenlage ist unübersichtlich, verschiedene Akteure sind (oder waren) daran beteiligt.

Jetzt endlich, so kann man sagen, ist die bestehende Lücke ausgefüllt worden. Niklas Venema ist dies mit seiner vorliegenden Berliner Dissertation gelungen. Die Untersuchung basiert auf einem breiten und diversen Quellenkorpus. Zwar hat er, wo vorhanden, zu einzelnen Zeiträumen und Aspekten seines Gegenstands auch klassische Archivquellen heranziehen können, und zwar soweit staatliche Stellen, Berufsorganisationen oder Bildungseinrichtungen involviert waren und Unterlagen dazu gesammelt haben. Zeitungsverlage sind leider keine genuinen Archivare. Notwendigerweise bedient sich der Verfasser in großem Umfang „grauer Literatur“. Der Rezensent bekennt, noch nie ein Literaturverzeichnis mit so vielen unter N.N. verzeichneten Titeln gesehen zu haben. Dabei handelt es sich überwiegend um kurze Artikel und Meldungen in den Branchen- und Berufszeitschriften der Verleger und Journalisten. Das generische Maskulinum zu gebrauchen, empfiehlt sich übrigens nicht nur wegen seiner übergreifenden Funktion, sondern auch, weil die längste Zeit, über welche sich die Untersuchung erstreckt, so gut wie ausschließlich Männer für den Journalistenberuf ausgebildet wurden.

Gemäß dem heutigen Anspruch, historische Untersuchungen mit einer theoretischen Perspektive zu unterlegen, stellt der Autor zunächst Überlegungen zu einer derartigen Einordnung seines Gegenstandes an. Er orientiert sich an dem Konzept der Akteurs-Struktur-Dynamik des Soziologen Uwe Schimank und widmet diesem ein eigenes Teilkapitel. Leitend ist vor allem die Unterscheidung von Deutungsstrukturen, Erwartungsstrukturen und Konstellationsstrukturen, die das Handeln von Akteuren bestimmten. Insgesamt wirken diese Differenzierungen für die nachfolgende Untersuchung eher strukturbildend als in jedem Fall erklärend. Ohnehin wird, wenngleich weniger elaboriert, auch das Professionalisierungskonzept als theoretische Grundlage skizziert. Nur ein einziges Mal findet sich ein expliziter Bezug auch zu Michel Foucault, dessen sozialer Machtverdacht sich aber wie ein roter Faden durch die Untersuchung zieht.

Nach Einleitung und Theorie sind es drei Kapitel, in denen Niklas Venema sein Thema abhandelt. Zunächst wird noch der unzureichende Forschungsstand resümiert, ohne dass hier – wie auch insgesamt – das Dissertationsmäßige überhandnähme und die Lektüre beschwerte. Sodann wird sorgfältig das methodische Vorgehen erläutert und transparent gemacht, nachvollziehbar in seiner systematischen Kategorienbildung und in der quellenspezifischen Annäherung.

Das fünfte Kapitel präsentiert die Ergebnisse, es ist das umfangreichste und umfasst mit mehr als 300 Seiten allein vier Fünftel des Textteils. Fünf Unterkapitel gliedern die Geschichte des journalistischen Volontariats in Deutschland in fünf Phasen. Leitend für deren Abgrenzung sind die großen historischen Einschnitte. Die Darstellung beginnt in den 1870er-Jahren und reicht zunächst bis zum Ende des Kaiserreichs. Das zweite Unterkapitel erstreckt sich auf die Weimarer Republik, das dritte auf den Nationalsozialismus. Es folgen je ein Kapitel zum Volontariat in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Durchweg also erscheint die Journalistenausbildung in Deutschland durch das politische System beziehungsweise das dadurch geprägte Pressesystem determiniert, wenn auch in unterschiedlichem Grad.

Entstanden ist das Volontariat, das Anlernen in der alltäglichen journalistischen Arbeit, also „on the job“, wie man heute sagt, in den 1870er-Jahren, als sich das Zeitungswesen in Deutschland „entfesselte“ und typologisch diversifizierte. Schon hier wird darin die „Etablierung der Kontrolle durch die Verleger“ (S. 67ff.) diagnostiziert. Dabei handelte es sich noch weniger um eine formelle Ausbildung als um einen Einstieg in die journalistische Laufbahn. Zugleich entzündeten sich erste Debatten um das Volontariat, zumal als die Berufsorganisationen der Verleger und Journalisten auftraten. Diese weiteten ihre Aktivitäten in der Weimarer Republik aus. Angesichts noch völlig fehlender formeller Regeln herrschte in der Journalistenausbildung geradezu ein Wildwuchs, von „Volontärunwesen“ war die Rede, ja der „Volontärzüchterei“ wurde der Kampf angesagt. Und mit der Zeitungswissenschaft trat ein neuer Akteur auf, der neben das Volontariat jetzt einen akademischen Ausbildungsweg stellte.

Aus der Machtübernahme der Nationalsozialisten resultierten im „Dritten Reich“ neue Bedingungen auch für das journalistische Volontariat. Der Berufszugang wurde durch das Schriftleitergesetz geschlossen, die angehenden als auch die aktiven Journalisten gerieten unter den ideologischen Druck der Machthaber oder wurden ganz aus dem Beruf entfernt. Zudem gab es zeitweise den Versuch der Zentralisierung durch die Reichspresseschule. Von diesen massiven staatlichen Eingriffen abgesehen, lebten freilich die Mängel des üblichen Volontariats in der Praxis durchaus fort.

Es überrascht nicht, dass nach dem Zweiten Weltkrieg und der Errichtung zweier deutscher Staaten auch das journalistische Volontariat zweierlei Wege ging. In der Bundesrepublik kehrte mit der liberal-demokratischen Ordnung die vom Staat unabhängige privatwirtschaftliche Presse zurück. Hier schloss man jetzt an die Tradition des klassischen Volontariats an. Allerdings setzte auch um dieses schnell wieder eine ausufernde Debatte ein. Während von journalistischer Seite Kritik an der bisherigen Praxis geübt und weit reichende Verbesserungen gefordert wurden, hielten die Verleger an der freien Auswahl und Ausbildung der Volontäre und Volontärinnen gemäß den Bedürfnissen ihrer Unternehmen fest. Dies wertet Venema wieder als Kontrolle. Er unterstellt den Verlegern ausnahmslos wirtschaftliche Interessen, ja tut so, als seien sie in erster Linie die Nutznießer der Pressefreiheit (vgl. S. 215), was erstaunt, da er selbst Presserechtskommentare verzeichnet1, die ausdrücklich alle im Pressewesen Tätigen zu Trägern der Pressefreiheit erklären. Auch das Zitat vom „scheinbar freien Berufszugang“ (ebd.) ist verräterisch.2 Denn Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert mit der Meinungs- und Pressefreiheit nicht jedem auch schon die Mittel dazu. Dass die Verleger jahrzehntelang beim Volontariat „mauerten“, bleibt freilich unbestreitbar. Seit den 1970er-Jahren verstärkten sich (auch deshalb) in der Bundesrepublik die Bemühungen um die akademische Journalistenausbildung. Venema hat sich einen Weg gebahnt durch den Dschungel der jahrelang geführten einschlägigen Debatten und Initiativen, deren Grundlinien er nachzuzeichnen versucht. Wer das miterlebt hat, kann sich noch gut daran erinnern.

In der DDR gab es nach 1945 einen vergleichbaren Debattenverlauf über das Volontariat nicht. Hier stand die Journalistenausbildung von Beginn an unter den Prämissen einer staatssozialistischen politischen Ordnung, die den Journalisten zum politischen Propagandisten machte. Das heißt freilich nicht, dass es im Laufe der Jahrzehnte keine Diskussionen und Veränderungen gegeben hätte. Das gilt insbesondere für die Rolle der akademischen Ausbildung an der Fakultät, später Sektion für Journalistik der Universität Leipzig. Hier ergänzt Venema die teilweise schon in der Forschung aufgearbeitete kommunikationshistorische Forschung, und das ohne falsche Romantisierung.

Über die nacheinander folgenden Phasen in der Geschichte des journalistischen Volontariats in Deutschland hinweg kehrten lange Zeit in einem Auf und Ab immer wieder dieselben oder ähnliche Fragen wieder: So die Annahme einer berufsspezifischen „Begabung“ für diesen Beruf, seine Lehr- und Lernbarkeit, die Frage der Inhalte, der Mittel und der anzueignenden Standards, ferner das Verhältnis von Theorie und Praxis einschließlich ihrer institutionellen Voraussetzungen. Nicht zu vergessen ist der notorische Vorwurf des Missbrauchs billiger Arbeitskräfte.

Großenteils bietet Venemas Buch eine Diskursgeschichte des journalistischen Volontariats, viel weniger eine Darstellung seiner praktisch-materiellen Seite. Das mag seinen Grund in einem einschlägigen Quellenmangel haben. Da es lange Zeit kaum Vorgaben gab, ist insgesamt wenig dokumentiert. Tatsächlich könnte man sich dafür etwas von den vorhandenen journalistischen Autobiografien versprechen, die der Verfasser sehr wohl auch herangezogen hat. Aber auch da findet man diesbezüglich leider kaum detaillierte Auskünfte. Dies führt mit dazu, dass die Rolle der Redaktionen, in denen sich das Volontariat abspielte, unterbelichtet bleibt und kein Komplement zur Rolle der Verleger geschaffen wird. Es sei dem Rezensenten erlaubt, an dieser Stelle zumindest an eine offenbar übersehene, wenn auch amerikanische klassische Studie zu erinnern.3

Venema hat mit seinem Buch die eingangs vermerkte Lücke auf vorzügliche Weise geschlossen, auch wenn man – wie angedeutet – einzelne Akzentsetzungen kritisch sehen kann. Das Buch ist bei aller Gelehrtheit gut geschrieben und streckenweise spannend lesbar, zumindest für den einschlägig Interessierten. Zudem werden in zahlreichen Fußnoten biografische Informationen zu den im Text erwähnten Personen nachgetragen, was dem Buch insoweit geradezu einen lexikalischen Charakter verleiht, aber immer wieder auch zur Unterbrechung der kontinuierlichen Lektüre verführen kann. Noch eine unschöne Marotte sei erwähnt: Die Zitate im Text sind mit einem Übermaß an lästigen Ausrufezeichen [!] übersät, weil der Verfasser damit jede übernommene, heute nicht mehr übliche Orthografie anzeigen will. Das ist z.B. bei jedem „daß [!]“ der Fall. Mit einer vorweg erklärenden Generalklausel hätte er sich und den Leserinnen und Lesern das ersparen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Martin Löffler / Reinhart Ricker, Handbuch des Presserechts, 5. Aufl., München 2005.
2 Das Zitat entstammt: Martin Löffelholz, Vom Markt zum Staat, in: Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Journalismus & Kompetenz. Qualifizierung und Rekrutierung für Medienberufe, Opladen 1990, S. 167–193, hier S. 176.
3 Warren Breed, Social Control in the Newsroom. A Functional Analysis., in: Social Forces 13 (1955), S. 326–335; auf Deutsch: Warren Breed, Soziale Kontrolle in der Redaktion: eine funktionale Analyse, in: Jörg Aufermann / Hans Bohrmann / Rolf Sülzer (Hrsg.), Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Forschungsrichtungen und Problemstellungen. Ein Arbeitsbuch zur Massenkommunikation I und II, Bd. 1, Frankfurt am Main 1973, S. 356–378.